0.100 Im System als Gewinner gelebt – eine Kritik

17. 4. 2023

In meiner Einführung zur Website habe ich geschrieben, dass ich die Vorzüge dieses Systems genossen und auch seine Schwachpunkte reichlich erlitten habe. Hier will ich versuchen, vor allem die dunkle Seite mehr zu Wort kommen zu lassen.

‚Dunkel‘ ist dabei auch manches, was ich mir als Kind zurechtgelegt habe, wofür ich keine zufrieden stellenden Erklärungen im ‚Außen‘ finden konnte. Das Problem beginnt dort, wo über einiges ’nicht gesprochen‘ wurde – es gab Tabu-Themen. In der Zeit meines Aufwachsens galt in den ersten 15 Jahren, dass ‚man‘ unauffällig zu sein hatte. Das bedeutet automatisch, in einer Art von ‚Versteck-Welt‘ ein zweites Leben neben dem eigentlichen zu leben hatte.

Dabei bin ich gleichzeitig handelndes Subjekt, das sich das äußere wie auch das innere System zurecht legt. Wer und wie bin ich? Wie ist das ‚Außen‘ und wie komme ich damit zurecht?

Mir gefiel das Prinzip der Freiheitlichkeit sehr, das allgemein propagiert wurde. Dazu passte mir nicht recht, dass ich eine lange Ausbildungszeit und eine noch viel längere Berufstätigkeits-Zeit bis zum Alter von 65 Jahren zu absolvieren hatte, in der das Prinzip des Gehorsams eine wesentliche Rolle einnehmen würde. Erst danach sollte es mit dem eigenen Leben freier zugehen. Ich fragte mich: Wieso nicht gleich mit dem Pensions-Leben anfangen und das andere nicht einfach weglassen?

Autor im Sommer 2022 in Norwegen

Mir fehlte noch deutlich eine Einsicht in die Sinnhaftigkeit von Ausbildung (auch selbst-bestimmt?) sowie Berufstätigkeit als selbst gewählte Tätigkeitsform. In meiner Familie fehlte dazu eine brauchbare Gesprächskultur. Kinder wurden mit ihren Ansichten nicht ausreichend wichtig genommen. Wir Kinder gingen demnach einfach ‚unseren eigenen Weg‘ weitgehend alleine.

Als Spielwiese dienten uns ein Spielzimmer sowie ein kleines, hoch ummauertes Gartengrundstück zur alleinigen Nutzung. Das nahm ich als ’selbstverständlich‘ an und begriff nicht, dass wir hier über ein Privileg verfügten, das den meisten Stadtkindern in meiner Umgebung nicht zur Verfügung stand. Mir war der Ausdruck ‚Hätschelkind‘, den ich von Gleichaltrigen zu hören bekam, nicht wirklich passend. Dennoch wusste ich mich insgesamt sicherer und gut umsorgt im Vergleich zu anderen, deren ‚freieres‘ Leben in der öffentlichen Außenwelt ich denen aber manchmal durchaus neidete. Ich erlebte mich nämlich durchaus auch in einer sehr behüteten, beengten Lebensumgebung.

Das Prinzip der Zielstrebigkeit sowie Ausdauer im Erlernen von persönlichen Fertigkeiten war mir nicht eigen. Mir genügten ordentliche Schulleistungen und die Aussicht darauf, für Geld Dinge erwerben zu können, weitgehend. Was mir ansonsten fehlte, würde sich bei mir im Laufe der Zeit schon selbst entwickeln…

Die Welt der Erwachsenen blieb mir als Kind fremd und auch nicht ausreichend ehrlich. Ich erlebte sie als überstark und oft nicht legitimiert über mich herrschend. So erschienen mir Kinder im Grundsatz als ‚die besseren Menschen‘, solange sie mir nicht gewaltsam kamen. Dieses Konstrukt wirkte noch Jahrzehnte lang fort – nicht unbedingt zu meinem Vorteil, denn schließlich wurde ich selbst ein Erwachsener.

Doch bis dahin war es noch weit. Zuvor hatte ich eine längere Streuner-Zeit als Kind in Düsseldorf, was sich nach dem Umzug nach Kaarst mit 13 Jahren fortsetzte. Auffällig war mir in der Folge, dass ich mich in der Freizeit viel mehr zu Jüngeren hingezogen fühlte als zu Gleichaltrigen. Ich blieb trotz Pubertät in einer Art von Spielwelt und es zog mich so gar nicht in die Lebenswelt meiner gleichaltrigen Jungen und Mädchen.

Eigene Konsumwünsche entwickelte ich neben meiner Streunerei dennoch. Mit 15 Jahren verfügte ich dank einer Arbeit für die Firma meines Vaters (Lieferscheinbücher kontrollieren) über wenigstens 300,- DM monatlich. Dadurch finanzierte sich zusehends Rauchen, Bier trinken sowie Schnellrestaurant-Besuche (‚Meister‘) im Rahmen einer wenig organisierten Clique von Gleichaltrigen (meist über Fußball). Das Interesse an diesen Leuten war jedoch auf Fußball und Konsum begrenzt. Dort war ich reiner Mitläufer, während ich mich bei den heimischen jüngeren Freunden als Älterer auch in einer gewissen Überlegenheits-Position genoss.

Betrachtete ich mein damaliges Einkommen und das meines Vaters, dann fiel mir dennoch eine deutliche Ungleichheit auf. Ich musste in eine ‚höhere‘ Position kommen, wenn ich das materielle Niveau für mich sichern wollte, das ich dank Vater und seiner Stellung im Betrieb erwerben bzw. halten wollte. Meine damalige Arbeit sicherte mir ja auch keine Krankenkasse und auch keine Altersversorgung…

Ich müsste, so meinte ich damals, wohl eine Art von Schwein für andere werden, um mir solche Vorteile erwerben und sichern zu können. Ganz mit Ehrlichkeit sei das kaum zu bewerkstelligen.

Zu einer bestimmten Arbeit fühlte ich mich ohnehin nicht hingezogen. Erst meine Tätigkeit als Wehrdienstverweigerer in diversen Behinderten-Bereichen öffnete mir den Weg hin zu einer Arbeit mit jüngeren Mitmenschen. Doch mir bekannte Neben-Motivationen würden diesen Bereich stets auf Dauer belasten – das war mir wohl bewusst

Als Nachhilfelehrer konnte ich leicht Erfolge in Mathematik erzielen, was mir sogar ein eigenes Auto ermöglichte, das mich im Schnitt 800,- DM im Monat kostete. Außerdem war mir das Moment der Bewunderung ausgesprochen wohltuend, das mir damals durch die vorwiegend 14 – 17-Jährigen entgegen gebracht wurde. Mein Studium, für das ich gleichzeitig Bafög erhielt, litt darunter deutlich; ich verlor dadurch 4 Semester und ich musste meinem Vater schließlich beichten, dass ich ihm diese 2 Jahre länger auf der Tasche liegen würde – allerdings dann ohne Auto, ohne Nachhilfeunterricht und auswärts in Hochschulnähe sowie ohne meine jüngeren Nachbarschaftsfreunde. Zu meinem Glück spielte der das mit.

Mein Studium brachte ich gut zu Ende, sehr schwierig gestaltete sich dagegen meine praktische Vorbereitung auf das Lehrer-Dasein. Ich passte nicht wirklich in diesen Bereich – doch er war der Einzige, in dem ich meines Wissens mit so viel Freizeit ein gutes Einkommen erzielen konnte, ohne noch einmal ganz von vorne beginnen zu müssen.

Ich benötigte Jahre, um mich anzupassen und ein brauchbarer Lehrer in Selbstverantwortung werden zu können. Doch die Tätigkeit blieb für mich sehr kräftezehrend und ich musste viele Kröten schlucken, um mich als Gewinner in diesem System positionieren und halten zu können. So richtig wohlfühlen konnte ich mich nur in den großen Ferien, wo es für mindestens 4 Wochen nach Norwegen im eigenen Wohnmobil ging. Hier bestimmte ich weitgehend Weg, Inhalt und Lebensweise – im Gegensatz zum Alltag in Mönchengladbach, wo ich mehr nach Connys und meiner Schule Pfeife tanzte bzw. funktionierte.

Als ‚Ausgleiche‘ nutzte ich ‚mein‘ Wohnmobil, üppiges Essen und Trinken sowie die ‚großzügige‘ Kontrolle über das vorhandene Einkommen – sehr zu meinen Gunsten. Conny führte ‚dafür‘ in den Beziehungen und pflegte sie. Diese Art von Arrangement belastete die Partnerbeziehung schwer.

Bis hierher geht das Lavieren zum eigenen Vorteil – wohl auch auf Kosten meiner eigenen Gesundheit. Dazu kam ein schwerer Verkehrsunfall 1986, der mich als 35-Jährigen auf mich selbst zurück warf. Fünf Jahre Rehabilitation folgten, gepaart mit einer langjährigen finanziellen Nachsorge dieses Ereignisses. Das Lehrer-Sein musste ich neu erlernen und dabei erfahren, dass nun alles noch schwieriger erschien als früher.

Doch Ausdauer half mir hier. Immerhin war ein Haus abzubezahlen, hatte ich drei Kinder zu versorgen und schließlich fand ich auch einen Hobby-Weg, der mir mit langjährigem Tischtennis-Training Erfolge auf Stadtebene für die von mir geführte Truppe ermöglichte. Hier galt für mich neben der Regelmäßigkeit auch wieder das Lustprinzip, wo ich ohne Kontrolle durch andere das hohe Ziel der Stadtmeisterschaft dreimal erreichen konnte – mit unterschiedlichen Besetzungen.

Bald streikte mein Rücken und der begründete auch mein frühes berufliches ‚Aus‘ – besiegelt im Jahre 2001 mit nur 50 Jahren Alter. Im Beamtensystem war es nicht vorgesehen, dass jemand ohne Pensionsverlust mit Teilstunden arbeiten konnte. So war ich gezwungen, meinen beruflichen Karren durch ständige Überforderung im Volldienst vor die Wand zu fahren. Das Ende kam für mich wenig überraschend, wenn auch vom Inhalt her herausfordernd – musste ich mich doch als Hausmann neu erfinden und einrichten.

Das Wohnmobil war mir wieder zum Begleiter geworden – allerdings ohne Conny, die mit Rudi eine intensive Freundschaft begonnen hatte. Außerdem hatte ich mir mit 56 Jahren, als alle Kinder erwachsen geworden waren, ein ausgedehntes Fahrrad-Abenteuer gestartet, das bis heute anhält und mir das Nutzen eines Autos im Alltag überflüssig macht.

So konnte ich zwar politisch keine Änderung im Verkehrswesen ermöglichen – wohl aber im privaten Raum.

Heute bin ich ein finanziell und materiell gut gestellter Ruheständler, der sich durchaus als Privilegierter betrachten kann. Ich habe mehr als ich benötige.