1.001 September 2020: kritische 109.000 Radkilometer

Alles wie gehabt? Das Jahr brachte einen Krankenhausaufenthalt wegen extremen Bluthochdruck und eine langwierige, schmerzhafte Gürtelrose mit sich. Außerdem halten Krankheit und Tod im Umfeld kräftig Einzug.

Mit bisher über 13.500 km das drittmeist genutzte Rad

Ich musste vorsichtig sein und gut auf mich aufpassen. Da ging es nicht nur um das Radfahren, sondern auch um Gewicht, Gedanken, Essverhalten, Kaufen und Alkohol vor allem.

Diese breite Palette macht es mir nicht leicht. Doch ich habe fast 4 alkoholfreie Monate hinter mir. Das Gewicht ist um 9 kg niedriger als vor dieser Zeit.

Doch ich spüre in allen Bereichen die eigene Verhaftung bis tief in den eigenen Charakter. Da lässt sich nichts ein für allemal erledigen und umpolen, wie ich mir das sehr wünschen würde.

Meine Gedanken und Gefühle sind voller Müll, der große Macht über mich ausübt.

Da geht es also um tägliches Klein-Klein, das ich zu organisieren habe – stets und pausenlos. Was ich an kapitalistischer Erziehung genossen habe und was sich an schwachen Problemlösungen aus eigenen frühen Jahren dazu gesellte, ergibt zusammen eine bleibende Hypothek, die ich nicht abschütteln kann.

Mein Radfahren ist ja auch so ein Lösungsversuch gegen Bequemlichkeit und massenhaftes Autofahren. Doch das reiht sich ein in meinen kapitalistischen und persönlichen Kontext.

Wo finde ich Brauchbares und Schönes?

Hier lasse ich keine Kapitalismus-Kritik und auch keine Selbst-Verurteilung folgen. Ohne Einwände geht es allerdings nicht.

Mit dem erfolgreichen Streben nach einem gehobenen Einkommen kamen Auto und entsprechender Sachbesitz. Die ständige Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen bis hin zum Gratis-Sex im Internet bewirkt einen andauernden Aufforderungs-Charakter, sich doch ganz einfach zu bedienen. Und Geld fließt einem pensionierten Beamten für mehr als das Nötige zu.

Für meine jetzt laufende Praxis ist es am Wichtigsten, wie es ganz positiv und konkret weitergeht. Ich habe die ständigen Verführungen stets im Blick zu behalten. Das Gleiche hat jeder hoch Beschleunigte im Straßenverkehr mit langsamen Teilnehmern auch zu tun, wenn man niemanden von denen versehentlich ‚mitnehmen‘ will.

Wie man sieht, betrachte ich das Radfahren dieses Mal in einem größeren Zusammenhang.

Eine Menschengruppe sucht…

Es geht weniger um das, was ich nicht mehr tun will, sondern um den sinnvollen Ersatz oder die Umsteuerung.

So habe ich ein positives Kontingent von 1900 Tageskalorien einzuteilen, mit dem ich 90 kg Gewicht erziele und halte. Wie ich das mache, darin bin ich weitgehend frei. Funktionieren wird das nur dann, wenn ich den Nährstoffgehalt nicht zu günstig für mich berechne. Da ist Disziplin gefragt.

Beim Alkohol habe ich die ruhige Gewissheit, dass ich diese Krücke für mein Leben, den Alltag nicht mehr brauche. Wer geht schon mit Hilfen, wenn er die nicht mehr benötigt – und seien sie noch so schön angenehm? Alkoholisches als Gehhilfe zu betrachten ist eine gute Abwertungsstrategie.

Ähnlich ist es mit dem Sex: Dessen praktische Zeit ist ohnehin längst vorbei. Ihn auszuschalten geht nicht, weil die Anlage in mir bestehen bleibt. Doch habe ich nicht so viel Langeweile, dass ich meine Zeit damit füllen und (sicher angenehme, aber faktisch vergebliche) Kraft darauf konzentrieren muss. Da das Innere und das Äußere hier stets Entsprechendes suchen, fällt mir die Rolle des Aufpassers und Korrigierenden zu – lebenslang. Dieses Spiel lässt sich mit einem gewissen Schmunzeln begleiten.

Entsprechendes gilt für Einkäufe aller Art, die notwendig, sinn- und maßvoll sein sollen. Ebenso hat die Nutzung von Allem zu sein. Auch hier ist immer wieder Schmunzeln gefragt. Der Unsinn kommt von innen wie von außen her.

Das gilt ja selbst für mein Einkommen, das letztlich aus legalem Raub = Steuern stammt. Das will ich hier aber nicht vertiefen.

Freiheit ist nicht ein Freibrief zu tun, was die Impulse von innen und außen gerade vorgeben. Deren Grenze liegt dort, wo Welt, Mitgeschöpfe und ich selbst Schaden nehmen. Das geschieht leider sehr häufig.

…auch die Möwe sucht…

Was heißen sinn- und maßvoll? Für den angestrebten Zweck gilt in der Regel die einfachste und günstigste Lösung. Mehrfach-Besitz ist kritisch zu sehen. Allerdings ist auf Qualität zu achten, die alle Faktoren im Blick hat, die auch für die eigene Umgebung bedeutsam sind. Werden Mitmenschen ordentlich entlohnt? Entstehen keine vermeidbaren Belastungen für die Mitwelt?

…auf dem Deich fällt den Schafen das Finden und Ruhen bei stabilem Wetter leicht.

Da sind viel Bewusstsein und ständige Kontrolle angesagt. Doch warum darin vorrangig eine Last sehen? Erspart einem das doch viel Unsinn und damit reichlich Zeit- und Energie-Verschwendung, die damit für sinnvollere Zwecke frei wird.

Nach 92 Kilometern gönnt sich der 69-jährige Fahrer etwas…

Erst hier bin ich beim Radfahren angekommen. Es ist eine stille Genugtuung, so lange dort geblieben zu sein und das nötige Glück wie auch Geld, Zeit und Kraft dafür gehabt zu haben.

Ich nehme das mit Dankbarkeit an. Es ist nicht nur sportliche Leistung, sondern vor allem ein tägliches Tun für Körper und Geist. Da gibt es viel zu koordinieren. Das hält wach und fit.

Brauche ich noch das Wohnmobil? Wann finde ich den Mut es frei zu geben?

Welchen Geld- und Sachbesitz kann ich noch frei geben? Ich habe und bekomme deutlich mehr als ich benötige.

Sind Beziehungen zwischen Menschen nicht wesentlich und damit wichtig- bei aller Sterblichkeit?

Im Vogelreservat bei Greetsiel…
…Vögel im Schutzgebiet bringen kein Geld…

Da ist noch ein wichtiger Punkt für mich als alternden Menschen: die lieb gewordenen Gewohnheiten.

Wir haben uns im Leben eingerichtet und verfügen dabei über ziemlich feste Erwartungen an Leben und Alltag. Läuft da etwas nicht nach Wunsch oder Plan, dann wird das leicht als ungerecht erlebt und es fehlt eine gewisse Flexibilität, um sich auf die veränderte Situation einzustellen.

…Kühe vor dem Deich…die bringen dagegen Geld…

Junge Leute und erst recht Kinder, wo nicht alles nach Gusto läuft, wissen da oft viel besser, dem ‚Anderen‘ seine guten Seiten abzugewinnen. Sie fühlen sich dann nicht betrogen.